Mittwoch, 28. September 2022

Will & Ariel Durant "Die Lehren der Geschichte"

5000 Jahre auf knapp 150 Seiten sind ein wagemutiges Ziel, welches sich die beiden Pulitzerpreis-Autoren sich zum Ziel gesetzt haben. So viel Geschichte verdichtet auf so wenigen Seiten, hört sich im ersten Moment nach einer starken, vermeintlich auch willkürlichen, Selektion an, doch der Leser wird mit diesem Buch äußerst gut unterhalten. Dabei sei direkt zu Anfang gesagt, die Kürze des Buches soll nicht über die Intensität des Buches hinwegtäuschen, denn das sprachliche Niveau, welches die beiden Autoren hier vorlegen ist wahrlich sehr hoch. Viele Ereignisse und Personen und auch ihr historischer Kontext werden als bekannt vorausgesetzt. Es handelt sich nicht um eine schlichte Ereigniszusammenstellung.
Das Buch, welches erstmalig in den 60er Jahren erschien und für diese Ausgabe sowohl aktualisiert als auch in Teilen überarbeitet wurde, legt einen anderen Schwerpunkt.
Die Autoren stellen schon direkt zu Beginn der Betrachtung fest, dass die Geschichtsschreibung eine Geschichte der Auslassung ist. Das allgemeine, unbedeutende Leben, was aber in vielen Leben gelebt wurde, wurde nicht dokumentiert, nur das, was für die Zeit oder von der Nachwelt als wichtig erschien. Geheimnisse wurden vertuscht, Legenden wurden gebildet, die Geschichte ist die Geschichte der Sieger. Dieser allgemein bekannte Ausspruch klingt in jeder Seite des Buches mit.
Das Buch setzt den Schwerpunkt auf Themen, die unmittelbar mit der menschlichen Natur verbunden sind und betrachtet die jeweilige Entwicklung innerhalb der 5000 Jahre. Einzelne Highlights, wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, oder bestimmte Todesdaten, die eine Zeitenwende herbeiführten, werden genau benannt, ansonsten wird die allgemeine Menschheitsentwicklung beschrieben. Der Mensch und der Krieg, der Mensch und die Technik, der Mensch und die Natur sind nur eigene der zahlreichen Aspekte, die das Buch beleuchtet.
Viele Ideen, das merkt auch die Redaktion zum Schluss an, sind aus der Zeit gefallen und können nicht mehr so gelten, wie sie in den 60er Jahren galten. Die Menschen haben sich erneut verändert und man muss das Buch in seiner Entstehungszeit betrachten. Als Zeitdokument ist es interessant zu lesen, allerdings ist dies kein Einstiegswerk in die Geschichte, da es dafür zu kurz und fachlich geschrieben ist.

3,5 von 5 Jahrtausenden

Sonntag, 25. September 2022

Ann-Kathrin Karschnick & Stefanie Mühlsteph "Bookboy"

Der geneigte Leser stellt sich den Alltag eines Buchhändlers äußerst verklärt vor. Ein paar Bücher verkaufen, verräumen, ein kurzer Schnack mit dem Kunden und den Rest des Tages lesen, damit man den Kunden doch das eine oder eher das andere Buch empfehlen kann.
Nun, Bookboy Fabius Flieder, hätte den Tag auch gerne im Ohrensessel verbracht, anstatt 24 Stunden durch Wind und Wetter die bestellten Bücher zu den Kunden zu bringen. Doch sein Großvater, Inhaber der Leseratte, und auch die 22 Autor*innen haben sich für ihn etwas anderes ausgedacht. Fortwährend, nahezu im Stundentakt, schellt in der kleinen gemütlichen Buchhandlung das antiquierte Telefon und selbst in den Nachtstunden benötigen die Kunden gerade jetzt dieses bestimmte Buch. 
So wie man oftmals sagt, dass Bücher dem Leser Welten eröffnen, so beginnt mit jeder Fahrt des Bookboys seine eigene stündliche Geschichte. Denn jedes Mal sieht er sich dem Bestellenden und somit auch dessen Geschichte gegenüber.
Wer jetzt glaubt, dass bei 24 Lieferungen 24mal dasselbe passiert, der hat noch nie eine Anthologie gelesen. Denn was bei anderen Anthologien oft den Kern ausmacht, wird in dieser Anthologie auf die beste Weise umgesetzt. Muten einige Geschichten komisch oder gar witzig an, werden mit Fortschritt des Tages die Geschichten immer düsterer, dass man geneigt ist, hinter die Couch zu blicken, ob sich nicht ein Wesen aus dem Buch in die eigenen vier Wände geschlichen hat.
Die Autor*innen haben es zudem geschafft, die Geschichten übergangslos ineinander fließen zu lassen, sodass man oftmals gar nicht bemerkt, dass ein anderer Schreiberling eine weitere Stunde angebrochen hat. Alle Geschichten haben dabei ihren eigenen Stil und verzahnen sich dabei auch gerne einmal in bereits allgemein bekannte Literatur. Alle Geschichten bilden in ihrer Vielfalt ein großes Ganzes, was man - einmal begonnen - kaum mehr zur Seite legen kann. Die einleitenden Kapitelseiten zeigen dabei, wie schön es ist, ein gedrucktes Buch in Händen zu halten, so wirken die Illustrationen um ein Vielfaches mehr als auf dem Bildschirm eines Ebook-Readers.
Definitiv eines meiner Jahreshighlights, bei dem auch schon das Cover den Leser auf die richtige Fährte lockt: Das Buch ist eine großartige Reise in die Welt der Buchstaben und der Fantasie.

5 von 5 Fahrrädern

Samstag, 24. September 2022

A. K. Grundig "Ich rette die Welt - aber erst mal eine rauchen" Teil 1 "Zündstoff"

Sind es die Bilder oder die Bilder im Kopf, die einen mehr berühren? Wahrlich kann ein Bild mehr als tausend Worte sagen und doch, ohne Zusammenhang und in einer schieren Reizüberflutung können Bilder einen Film hinterlassen, der die Grausamkeit des Krieges verschleiert. Zudem ist es nicht ungewohnt, dass man bei täglicher Auseinandersetzung abstumpft, doch wo endet die Wahrheit und wo beginnt die Mutmaßung?
Lea reist mit mehreren Journalisten und Fotografen nach Syrien. Noch scheint es alles ruhig, doch der Druckkessel ist zum Bersten gefüllt. Zu viele Interessen prallen auf dem nahezu kleinen Gebiet aufeinander. So dauert es nicht lange, bis die Reporter neben der Berichterstattung immer wieder um ihre Existenz fürchten müssen, wenn sie sich auf die Straßen begeben, um mit den Menschen zu sprechen oder sie durch Fotos am Leben zu erhalten. Doch wer erzählt was, wer hat welches Interesse? Werden sie auf Dauer geduldet oder ist es gar auf Dauer schlicht zu gefährlich?
Doch wo das Gefühl der Angst sich umtreibt, ist auch das Gefühl nach Nähe und so treibt es Lea immer wieder zu dem Mann, der eigentlich nicht der Richtige für sie zu sein scheint. Denn ein Immortal War Baby ist ein Leben lang gezeichnet.
Selbst jetzt da ich das Buch beendet und zur Seite gelegt habe, spüre ich noch diesen Druck auf der Brust. Man weiß um die Kriege und um seine Schrecken. Man kennt die Bilder und Videos. Man weiß, was Menschen anderen Menschen antun können.
Doch ist es für das Format eines Buches, dass die Schmerzen und Leiden spürbarer macht, den Schrecken näher rückt, der die Gedanken für die Ursachen des Krieges befeuert. Das nachdenklich stimmt und gleichzeitig die Geschehnisse par absurdum führt. 
Alle Gefühle, die vermeintlich kleinen, wie das Betrunken sein vor der Fahrt ins Ungewisse, oder die großen wie zum einen Liebe und zum anderen Hass, vereinigt das Buch in sich, was es zeitweilig nahezu unerträglich macht es weiter zu lesen.
Dabei ist das Schlimme: Es ist nicht wirklich eine Geschichte - es ist ein Spiegel der Realität.

4 von 5 Zigaretten

Dienstag, 20. September 2022

Carolin Gmyrek "Kaputter Nebel"

Es war einmal...
Es begab sich, dass vor wenigen Jahren der Nebel sich erhob und der Durchgang zwischen den Welten verschwamm. Ein kleines, unschuldiges Mädchen verirrte sich im Nebel und galt in der menschlichen Welt als verschollen, bis sie zurückkehrte: Um keinen Tag gealtert.
Ein Aufruhr ward die Folge und die Wesen lebten mal in Feindschaft gegen-, mal in Frieden miteinand.
Doch einer, der ward sich sicher, dass sein Tag kommen würde, da er das Mädchen bestrafte, für das, was sie ihm angetan. Denn seit dieser Zeit ließ er es nie aus den Augen.

Die eine oder andere Dystopie hab ich in den letzten Jahren schon gelesen, doch eine Märchendystopie ist wahrlich etwas Neues für mich. Ein Crossover zwischen den verschiedenen Genres, was man definitiv nicht jeden Tag liest und in das man sich als Leser reinfinden muss.
Auf knapp 180 Seiten wird der Leser durch verschiedenste Wechsel (zuviel sei hier nicht verraten) geradezu durch die Geschichte geschleudet, dass man beim Lesen oftmals den Eindruck hat, man stehe selbst im kaputten Nebel.
Doch die Autorin schafft es, alle Fäden zusammenzuführen, lose Enden einzufangen und zu einem fulminaten Schluss zu verschnüren.
Die derbe Sprache passt zu den aufgestauten Gefühlen und als Leser ist man bei dem Blick hinter die Kulissen oftmals erstaut, mit welcher Wucht unterdrückte Gefühle zu Tage kommen.

Ein Buch bei dem die Stimme des Barden noch einige Zeit nachhallt, denn eine Erzählung dieser Art liest man nicht alle Tage.

4 von 5 Märchen

Montag, 19. September 2022

Bernd Schuh "Irre real"

Wer meinen Rezensionen schon etwas länger folgt und sie somit regelmäßig liest, dem dürften die Phantastischen Miniaturen bereits ein Begriff sein.
Für alle anderen dies: Die Phantastischen Miniaturen sind die Kurz- oder Kürzestgeschichten der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, die in regelmäßigen Abständen zu ausgewählten Themen des Bibliotheksgründers Thomas Le Blanc in Eigenregie herausgegeben werden.
Bernd Schuh ist einer der zahlreichen Autoren, dem pmachinery ein eigenes Buch widmet. Viele der 49 Geschichten in "Irre real" sind bereits in den Miniaturen erschienen und werden in diesem Buch thematisch neu gegliedert und dem Leser mit einleitenden Bildern präsentiert.
Zu den insgesamt acht Kapiteln gehören Themen wie Einseitig, Kneipen im Weltraum, Locked-in oder als Abschlusskapitel Der schöne Rest.
Gerade das Kapitel Kneipen im Weltraum zeigt, dass auch Kurzgeschichten gerne einmal einer Fortsetzung bedürfen und dass der Autor mit Witz und Verstand und der beschränkten Wortzahl, zwar ein Szenario wieder aufleben lassen, dabei aber äußerst kreativ vorgehen kann.
Auch bei dieser Zusammenstellung fällt auf, was einen guten Autor ausmacht. Je nach Thema schlägt der Autor eine andere Sprache an, mal wird der Witz in den Vordergrund geschoben, mal wird er bewusst zurückgehalten, um andere Elemente der Geschichte für den Leser in den Fokus zu rücken.
Kurz hintereinander viele Geschichten eines Autoren zu lesen, könnte monoton anmuten, wenn es der Autor nicht wie Bernd Schuh schafft, mit seinen verschiedenen Facetten den Leser ans Buch zu binden. 
Keine Geschichte gleicht der anderen und auch wenn die Kapitel mit ihren Überschriften es vermuten lassen könnten, so bildet jede der 49 Geschichten ihr eigenes kleines Universum, das von den anderen Geschichten gestützt wird.

4,5 von 5 Begebenheiten

Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sonntag, 18. September 2022

Thomas Köhler "Der Charme des Todes"

Kennt ihr diese Bücher, an die ihr mir einer gewissen Erwartungshaltung herangeht, um dann festzustellen, dass ihr völlig daneben lagt?
Ich präsentiere: "Der Charme des Todes"
Erwartet hatte ich ein Buch im Stile der Darwin Awards, bekommen habe ich etwas ganz anders.
Aber der Reihe nach: Leitet das Buch mit Titel oder Inhaltsangabe den Leser in die Irre? 
Nein!
Warum und vor allem, wie ich auf diesen Gedanken mit den Darwin Awards kam, erschließt sich mir im Nachhinein nicht mehr, aber das Buch hat mich - soweit man das bei diesem Thema sagen kann - gut unterhalten.
Es ist sicherlich nichts für zarte Gemüter, da schon das erste Kapitel sehr deutlich von dem Zerfall des Körpers spricht und auch die folgenden Kapitel lassen mit den beschriebenen Morden nicht immer das Gemüt ruhig zurück. 
Was mir an dem Buch sehr gut gefiel, die jeweiligen Morde wurden in drei Phasen unterteilt:
Wie war die Ausgangssituation?
Was geschah während der Tat?
Was folgte daraus?
Beispielsweise wird sehr ausführlich über das Attentat von Sarajewo berichtet und welche weitreichenden, sogar bis heute geltenden Folgen dieses Ereignis hatte. Weiterhin werden auch in die Beschreibungen technische oder medizinische Entwicklungen eingeflochten, wenn es thematisch passt.
Ein weiterer größerer Abschnitt ist der Mumifizierung im Unterschied zur Mumifikation gewidmet.
Das Buch ist trotz des Thema oder vielleicht gerade deswegen sehr informativ und lehrreich und bietet eine Bandbreite an Informationen, die man Leser bisher noch nicht in einen näheren Zusammenhang gebracht hat.
Das Buch kommt dabei mit wenig Fachsimpelei aus und richtet sich somit nicht nur an ein medizinisch vorgebildetes Publikum.

4 von 5 Todesarten

Samstag, 17. September 2022

Gerd Raguß "Was geschah mit Michelle?"

Jubel, Trubel, Heiterkeit.
Im Jahr 1973 scheint die Welt im Norden Deutschlands noch in Ordnung.
Zum Dorffest kommt die Bundeswehr und baut das Festzelt auf; es wird getrunken, es wird getanzt. 
Während einige recht offensiv vorgehen, sind Claus und Michelle eher vorsichtig. Claus, weil er unsicher ist, Michelle, weil sie glaubt, Claus ist nicht so sehr interessiert.
Um die beiden herum, die Dorfjugend und die, die sich dafür hält.
Doch auf einmal geht alles recht schnell. Ein Treffen wird vereinbart, man trifft sich an Weihnachten und plötzlich steht nichts mehr in Frage.
Doch als die Verlobung verkündet wurde und Claus mit der Bundeswehr auf der ersten längeren Übung ist, verschwindet Michelle spurlos.
Ist Claus doch nicht der Mann ihrer Träume oder dreht ein zurückgewiesener Liebhaber durch?

Die Welt ist damals eine andere. Kein Handy, kein GPS, keine E-Mails, noch nicht einmal ein normales Telefon hat jeder zuhause. Gefühle sind intensiver, wenn man sich nicht sieht, man ist hilfloser, weil man den anderen nicht erreichen kann. Fluch und Segen zugleich. Doch wer könnte einem lieben Menschen wie Michelle schon etwas antun wollen?

Mit gut 170 Seiten ist es eher ein kürzerer Krimi, der die Lesern von heute in eine Zeit zurückversetzt, als die Menschen beim Verschwinden eines geliebten Menschen viel verlorener waren, als sie es heute sind. Wahrlich sind die Gefühle dieselben und man leidet mit Michelles Familie, als immer mehr Zeit verstreicht, ohne dass man etwas tun kann. 

Ein Kurzkrimi für zwischendurch, der ohne große Brutalität auskommt und das Gefühl der Angst aufzeigt, was passiert, wenn ein Mensch verschwindet, den wir lieben.

4 von 5 Ängsten

Susanne Degenhardt "Mit Herz und Verstand"

Jane Austen ... Mal wieder ...
Es gibt diese Autoren, zu denen man immer wieder zurückkehrt und von denen oder alternativ über die man alles haben muss.
Bei Jane Austen ist es auf Grund ihres kurzen Lebens sehr einfach ihr Gesamtwerk zu besitzen. Schwieriger ist es, die zahlreichen Pastiches oder Bücher über Jane Austen abzugreifen. Nach einiger Zeit und zahlreichen Büchern meint man, nichts Neues mehr zu erfahren, da sich die Bücher ein ums andere wiederholen.
Anders verhält es sich bei diesem Buch:
Susanne Degenhardt, selbst Jane Austen Fan, hat sich mit einem Aspekt in Jane Austens Leben beschäftigt, den ich noch in keinem anderen Sekundärwerk angetroffen habe: Ihrem Glauben. 
Dabei ist es eigentlich so naheliegend sich mit Jane Austens Religiosität zu beschäftigen, da ihr Vater Pfarrer war und in der Familie dies eine große Rolle spielte. 
In 31 Andachten stellt die Autorin Bezüge zwischen Jane Austens eigenem Leben, ihren Romanen und Passagen aus der Bibel her, um den Lesern in Zeiten der Not eine Stütze zu bieten. 
Auch wenn Jane Austen immer versucht, das vermeintlich Gute im Menschen zu sehen, bieten doch gerade die Antagonisten die Situationen an, durch die nicht nur die Protagonisten sondern auch man selbst beim Lesen wachsen kann. Susanne Degenhardt schlägt hier den Bogen zur Realität: Was tun, wenn man wie Emma sich im Eifer des Gefechts im Ton vergreift, was tun, wenn man zurückgewiesen wird? Sich entschuldigen? Weiterkämpfen? Eine Mischung aus Bibelversen, Lebensweisheiten und Zitaten aus den Briefen zwischen Jane Austen und ihrer Schwester Cassandra runden die Andachten in einer treffenden Art und Weise ab, dass einem beim Lesen warm ums Herz wird.
Die wunderschöne Ausmachung des Buches, passende Textschnipsel aus den Romanen und eine durchweg passende Farbgestaltung zeigen zudem, warum es immer wieder eine Freude ist, ein Buch in der Hand zu halten. Es ist ein Genuss mit allen Sinnen.

5 von 5 Andachten

Donnerstag, 15. September 2022

Grit Richter (Hrsg) "Die Damen der Geschichte"

Können historische Persönlichkeiten in einer "alternativen" Geschichte unterhalten? 
Kurz und prägnant - Ja, sie können.
Während historische Romane darauf abzielen, dem Leser faktisch Geschichte näherzubringen, natürlich mit der einen oder anderen Modifikation, um den Spannungsbogen aufzubauen, geht diese Anthologie mit zwölf Geschichten über Damen aus den verschiedenen Jahrhunderten einen anderen - fantastischen - Weg.
Zwölf Schreiberlinge unterhalten uns mit dieser Anthologie, indem sie mal mehr, mal weniger bekannte Frauen auswählen, um eine Erzählung zu spinnen, die entweder einen wohligen Schauer oder das kalte Grauen hinterlässt, je nach Gemüt. 
Manche Geschichten sind dabei so nah an der Realität, das einem beim Lesen erst einmal bewusst werden muss, dass es sich hier um Fiktion handelt, so gut bettet sich die Geschichte in den historischen Kontext ein. Ob einem das beim Lesen wichtig ist, bleibt jedem selbst überlassen, ich empfinde Geschichten, bei denen die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt, als äußerst gelungen.
Dabei unterscheiden sich die Erzählungen in Länge, Ton und Sprache zeitweise merklich voneinander, sodass einem beim Lesen sicherlich die eine oder andere Geschichte besser gefällt. Zusammengefasst ist es eine ansprechende Anthologie, die die Schicksale der Frauen in der Vergangenheit beleuchtet, wenn sie dabei auch ein dunkleres Licht gesetzt werden.
Ein Lesevergnügen der etwas anderen Art.

4 von 5 Annalen

Mittwoch, 14. September 2022

Andreas Gruber "Jakob Rubenstein - sechs mysteriöse Kriminalfälle"

Mit seinen vorigen beiden Anthologien hat Andreas Gruber gezeigt, wie variabel er ein Thema in seinen Kurzgeschichten behandeln kann. Mit "Jakob Rubenstein" schlägt er einen anderen Weg ein.
Jakob Rubenstein, ein jüdischer Detektiv in Wien, hat noch nicht den Erfolg, der ihm seiner Meinung nach zusteht. Zu viele Detektive verderben ihm das Geschäft und dass er ein ranghohes Tier gegen sich hat, erschwert es ihm an lukrative Fälle zu kommen. Doch auch seine Methoden zeichnen ihn als Detektiv der alten Schule aus. Laptop, E-Mail und Co sind für ihn Hexenwerke und ohne seine Assistentin Lisa, die ihm alle Technik jenseits des Diktiergeräts vom Hals hält. wäre er hoffnungslos verloren.
Um zumindest die eine oder die andere missliche monetäre Lage auszugleichen, ist es sehr von Vorteil, dass seine Schwester quasi per Du mit dem Bürgermeister ist und er kleinere Fälle somit per Mundpropaganda erhält.

Die sechs Kriminalgeschichten lassen sich alle unabhängig voneinander lesen, doch nur wenn man sie alle liest, ergibt sich die Hintergrundgeschichte, quasi "Das große Ganze".  Verschiedene Charaktere tauchen neben Jakob immer wieder in den Geschichten auf und vermitteln dem Leser das Gefühl eine kleine, charmante Serie zu lesen und die Figuren über die Kurzgeschichten ein bißchen besser kennenzulernen. Dabei sind bei den Kriminalgeschichten die unterschiedlichsten Elemente dabei: Mord, Diebstahl und Betrug. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Dazu kommt in manchen Geschichten eine etwas übernatürliche Note, die sich harmonisch in das Setting und das Stadtbild von Wien einpasst.
Sicherlich ist diese Anthologie nicht so vielfältig wie die anderen beiden, wenn man das Buch allerdings in der Tradition der klassischen Heftromane oder im Stil der Sherlock Holmes Geschichten sieht, ist Andreas Gruber hier eine außergewöhnliche Sammlung gelungen.

5 von 5 Detekteien

Dienstag, 13. September 2022

Christa Ludwig "Alle Farben weiß"

Niemandes Leben verläuft in der Bahn, in der er es gerne hätte. Pläne werden geschmiedet, nur um von der Realität über den Haufen geworfen zu werden oder durch die Ignoranz der Mitmenschen zerstört zu werden. 
Selina liebt die Kunst, aber die Kunst liebt vermeintlich nicht sie. So ist zumindest die Aussage ihres Professors, wenn sie ihre Werke präsentiert. Die Technik selbst beherrscht sie, aber der Rest war Schweigen. Doch nicht nur hier läuft das Leben mehr als gegen ihren Willen.
Aus der WG muss sie kurze Zeit später ausziehen und so braucht sie beides: Job und eine neue Bleibe. Einige Jahre später, sie baut sich durch ihre Arbeit als Restauratorin in der Szene gerade einen Namen auf, wird sie gebeten ein altes Bild zu restaurieren. Das ursprüngliche Bild wurde übermalt und das neue entspricht nicht dem Glauben der Kirche. Doch während Selina Schicht für Schicht abträgt, kommen ihr Zweifel wegen ihrer eigenen Vergangenheit. War alles so, wie sie es sehen wollte? Oder war alles ganz anders gewesen?
So umfangreich das Thema klingt, so kurz kommt letztlich die Geschichte daher. Mit knapp 150 Seiten ist es eine kurze Erzählung, die verschiedene Themen anspricht, ohne sie dabei zu vertiefen. Der Effekt ist, dass man über das Buch ein wenig länger nachdenkt als über andere Bücher. Die Thematik der Restauration überwiegt in der Geschichte, aber es sind die Werte und Vorstellungen, die einen das Buch nicht allzu schnell vergessen lassen.
Ein ungewöhnliches Buch über die Kunst und über die Menschen, die sie praktizieren. 

3,5 von 5 Fresken

Donnerstag, 8. September 2022

#AutoralsLeser: Kai Focke

Oftmals nehmen wir Leser in einer Person nur den Autor war, doch das ist natürlich nur ein Teil der Wahrheit.
Ein Autor ist auch selbst ein Leser und ist durch das, was er gelesen hat beeinflusst. Doch spiegelt sich das Gelesene im Geschriebenen wider?
Wollen wir doch einmal sehen.  😉

Heute hat dieser Autor die Fragen zu seinem Leseverhalten beantwortet: 

Kai Focke (privat)


Welches sind die drei besten Bücher, die du je gelesen hast?
Das ist eine Frage die ich leider so nicht beantworten kann, da mir viele Bücher am Herzen liegen, von denen wiederum jedes Buch für sich genommen auf seine spezielle Art besonders ist. Es gibt allerdings eine Reihe, die ich immer wieder gern aus dem Bücherschrank nehme: die von Robert Lynn Asprin herausge-gebenen Diebeswelt-Anthologien. Asprin hat seinerzeit führende Autoren, wie beispielsweise Poul Anderson,  Andrew J. Offutt,  Janet Morris und  C. J. Cherryh, für ein Shared-World-Konzept begeistern können. Die beteiligten Autoren haben sich jeweils eine Figur überlegt und zu dieser Kurzgeschichten verfasst. Der Clou daran war, dass sämtliche Geschichten an einem von Asprin festgelegten Handlungsort – der spätmittelalterlichen Fantasy-Stadt Freistatt (engl. Sanctuary) – stattfanden und die Figuren innerhalb der Geschichten interagieren konnten. Der in Deutschland 1986 erstveröffentlichte Band „Die Diebe von Freistatt“ (engl. Originaltitel: Thieves World) gab den Auftakt einer achtzehn Anthologien umfassenden Reihe. Diese Bände habe ich geliebt und liebe sie noch heute, sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf deren Inspirations-potenzial.

Wo liest du am liebsten?
Mein Lieblingsleseplatz ist unspektakulär: die Wohnzimmercouch. Ansonsten lese ich dort, wo sich die Gelegenheit dazu bietet, als DB-Vielfahrer vor allem in Bahnen und auf Bahnhöfen. Im Unterschied zu vielen Menschen bin ich kein Café-Leser. Dort plotte und schreibe ich sehr gern.

Welches Buch hast du zuletzt gelesen und würdest es weiterempfehlen?
„Die Kaffeefee: Zwischen Chaos-Cappuccino und Magischer Melange“ aus dem Hause Art Skript Phantastik. Diana Menschig und Grit Richter haben diese Anthologie zum Schwarzen Koffein-Gold herausgegeben, wobei ihnen meiner Meinung nach eine ebenso schöne wie außergewöhnliche Zusammenstellung phantastischer Kurzgeschichten gelungen ist. Wie bei jeder anderen Anthologie wird einem der eine Text mehr, der andere Text vielleicht etwas weniger gefallen, doch insgesamt bewegt sich die Kaffeefee aus meiner Sicht auf einem hohen Niveau: definitiv eine Leseempfehlung, nicht nur für Kaffeetrinker.

Nachdem ihr nun wisst, was er liest, könnt ihr hier schauen, was er schreibt:
literaturfragmente.de/
instagram.com/literaturfragmente

In diesem Sinne, fröhliches Lesen und freut euch, wenn es demnächst ein weiteres Interview gibt.

Donnerstag, 1. September 2022

Autoreninterview Kai Focke Teil 2

Hallo zusammen.
Heute geht es weiter mit dem zweiten Interviewteil mit Kai Focke.


Hast Du als Autor eine Lieblingsgeschichte in Deinen Literaturfragmenten?
Welches deiner literarischen Kinder ist Dir am liebsten? Die Antwort ist schwierig, vor allem, da es immer mehr werden. "Schmunzelkekse" werde ich sicher immer mögen, wobei es sich um ein extrem schwarzhumoriges Literaturfragment handelt. Den Ausgang der Geschichte trägt mir die Einhornbeauftragte der Phantastischen Bibliothek Wetzlar – ja, die gibt es wirklich – bis heute nach.
Zu meinen Top-Favoriten gehört "Die Überlegenheit natürlicher Intelligenz", die man in der 3. Ausgabe des Weltenportal-Magazins nachgelesen kann. Zudem liegen mir die Empetanes-Geschichten sehr am Herzen. Sorry, dass ich jetzt ausweichend wie ein Politiker geantwortet habe.


Neben p.machinery und inzwischen auch der Weltenportal werden viele Deiner Geschichten in den Phantastischen Miniaturen herausgegeben. Was kannst Du über die Ausgaben erzählen?
In den bei p.machinery publizierten Anthologien sind bereits mehrere meiner Kurzgeschichten erschienen. Zudem durfte ich 2021 und 2022 mit "Staubkornfee trifft Ich-Maschine" beziehungsweise "Türen, Tore & Portale" – jeweils zusammen mit Sabine Frambach – dort auch zwei eigene Anthologien herausgeben. Bei p.machinery sind – die beiden eigenen Anthologien ausgenommen – hauptsächlich diejenigen meiner Geschichten erschienen, die ich innerhalb der „klassischen Phantastik“ und der Science Fiction geschrieben habe. Die Zusammenarbeit mit dem zumindest innerhalb der deutschen Phantastik-Community gut bekannten Verlag und dessen Verleger Michael Haitel, ist sehr angenehm und wird sich hoffentlich zukünftig noch weiterentwickeln. So würde ich gern in den kommenden Jahren, wie letztlich Monika Niehaus oder Bernd Schuh – um die Brücke zu den von Thomas Le Blanc herausgegebenen Phantastischen Miniaturen zu schlagen –, meine dort abgedruckten Kürzestgeschichten bei p.machinery gesammelt veröffentlichen. Die Phantastischen Miniaturen sind eine Anthologien-Schriftenreihe der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, in der sogenannte Kürzestgeschichten – diese umfassen regelmäßig nicht mehr als 900 Wörter – zu speziellen, manchmal sogar sehr speziellen Themenstellungen erscheinen. Da hätten wir beispielsweise: Home sweet home, Blaufußtölpel, Schöne Körper, Der Traum im Traum, aber auch: Job Future, Morgenwelten, Roboter, Hybris oder Universum ohne Menschen. Ein etwa vierzigköpfiges Autorenkollektiv trägt – in wechselnder Besetzung – pro Band etwa 30 Kürzestgeschichten verschiedener phantastischer Genres zusammen: klassische Phantastik, Sciece Fiction, Fantasy, Märchen, Fabeln und so weiter. Die Geschichten sind größtenteils in sich geschlossen, in allen Fällen jedoch kreativ, manchmal skurril sowie irgendwo zwischen Utopie und Dystopie angelegt. Leider können die Bände nicht über den Buchhandel bezogen werden, da sie im Eigenverlag der Phantastischen Bibliothek Wetzlar gefertigt und vertrieben werden. Infos zur Schriftenreihe und den Bestellmöglichkeiten gibt es unter phantastik.eu. Daher habe ich zusammen mit Sabine Frambach aus den ersten dreißig Miniaturenbänden die aus unserer Sicht am besten passenden fünfundfünfzig Kürzestgeschichten zusammengestellt und in der Anthologie "Staubkornfee trifft Ich-Maschine" herausgegeben. Hierbei haben wir versucht das gesamte Spektrum der phantastischen Genres abzubilden sowie Texte auszuwählen, mit denen auch Einsteiger in die Phantastik etwas anfangen können. Last but not least zu dem von Dir angesprochenen Magazin
"Weltenportal". Es handelt sich hierbei um ein Online-Magazin, welches kostenlos im Netz bereitgestellt wird (weltenportalmagazin.de), aber auch – in diesem Fall kostenpflichtig – als Printausgabe bezogen werden kann. Neben phantastischen Kurzgeschichten bietet das Weltenportal auch Rezensionen und Interviews rund um die Themen Phantastik, Science Fiction und Fantasy. Im Weltenportal 3 wurde meine schmunzelphantastische KI-Geschichte "Die Überlegenheit natürlicher
Intelligenz" neu aufgelegt, in der vierten Ausgabe wird exklusiv "Ein seltsamer Feierabend" erscheinen. Das Weltenportal ist ein Magazin, dass der Herausgeber Christoph Grimm mit viel Herzblut verlegt und welches sich einer kontinuierlichen wachsenden Leserschaft erfreut. Es ist schön, dass ich mit meinen Texten dabei sein darf und wünsche dem Magazin für die Zukunft alles erdenklich Gute sowie mehr Aufmerksamkeit auch außerhalb der Phantastik-Community.


Ein Leben ohne Science Fiction wäre für Dich ...

Ein Leben ohne Vorausschau. Science Fiction manifestiert Gedanken zu dem, was kommen kann – und liegt damit, im Guten wie im Schlechten, häufig nahe an den späteren tatsächlichen Entwicklungen. Wenn man auf ältere Science-Fiction-Werke zurückblickt ist man nicht selten überrascht, welche damals undenkbaren Ideen – und damit meine ich nicht allein Technologien – heute Realität geworden sind. Zukunftsforschung geht vielerlei Wege. Einer davon, das Entwickeln von Zukunftsszenarien auf der Basis von Science-Fiction-Literatur, ist der Ansatz von Future Life, einer Sektion der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, mit welcher ich auch außerhalb der Schriftstellerei im Rahmen einer Hochschulkooperation zusammenarbeite. Das wäre dann aber Stoff für ein weiteres, zukünftiges Interview.


Damit ist das Interview leider schon vorbei. Ich hoffe, es hat euch genauso gut gefallen, das Interview zu lesen, wie es mir gefallen hat, mit Kai das Interview zu führen. Unter dem Label "Autoren-Donnerstag" könnt ihr noch einmal das gesamte Interview nachlesen.

"Danke" Kai, für die Zeit, die du dir für die Antworten genommen hast und "Danke" an euch, dass ihr euch die Zeit fürs Lesen genommen habt.

Hier sind die entsprechenden Links zu Kai Focke:
literaturfragmente.de/
instagram.com/literaturfragmente

Wenn ihr nächste Woche noch einmal vorbeischaut, beantwortet euch Kai seine Fragen zu #AutoralsLeser. Seid gespannt.