Donnerstag, 27. Februar 2025

Autoreninterview Jens-Arne Klingsöhr

Hallo zusammen.
Ab diesem Jahr gibt es nur noch einmal im Monat ein Interview. Im Februar beantwortet die Fragen Jens-Arne Klingsöhr. Er ist Autor und Herausgeber des Sherlock Holmes Magazins, was den Schwerpunkt des Interviews schon verrät.

(Foto: Jens-Arne Klingsöhr, Grafik: Maximilian Wust)

Du gibst seit Jahren das „SHM – Das Sherlock Holmes Magazin“ heraus. Wie bist Du auf die Idee gekommen, das Magazin zu veröffentlichen?
Wenn es etwas nicht gibt, was man aber haben möchte, was macht man dann?
Es hatte mir nicht genügt, den Kanon zu lesen und Pastiches zu konsumieren. Ich wollte mehr über den Holmes-Kosmos, wie ich es bezeichne, erfahren. Das war in Deutschland aber reichlich schwierig. Zwar gab es mit dem „SNOB“ (Soft-Nosed Bullet(in); ein Club-Fanzine) eine ähnliche Publikation wie das namhafte „Baker Street Journal“ aus den USA, aber es war nicht so genau das, was ich suchte und wollte. Zudem war es nicht frei erhältlich, man musste dem Club beitreten, um es zu bekommen. Dies tat ich auch, erlebte dann aber schon eine Enttäuschung. Denn das geschah etwa zu der Zeit als die Endphase des Clubs eingeläutet war. Das „SNOB“ erschien nur sehr unregelmäßig, teils nur eine Ausgabe pro Jahr, wenn überhaupt. Das hatte mich keineswegs befriedigt. Also stellte ich mir die schon erwähnte Frage und beschloss ein eigenes Magazin zu erstellen, so wie ich es mir vorstellte.
Es dauerte mehrere Wochen, in denen ich das Für und Wider abwog, mir genau überlegte, wie das Heft aussehen solle, in welchem Format, ob schwarz/weiß oder farbig, was enthalten sein soll, auf wie vielen Seiten der Inhalt präsentiert werden könnte, wie die Logistik (Produktion, Versand) zu bewältigten wäre usw. Auch sprach ich mit verschiedenen Sherlockianern über mein Vorhaben und erhielt nur positive Resonanzen. Also entschloss ich mich dazu, eine Null-Ausgabe zu erstellen. Die hatte natürlich noch nicht die von mir anvisierte Seitenzahl und diente nur dem Zweck, auf einem bevorstehenden kleinen Sherlock Holmes-Treffen zu visualisieren, was ich vorhatte, um dadurch Mitarbeiter zu gewinnen. Das war im Sommer 2009. Die Präsentation der Null-Ausgabe stieß auf enormes Interesse. Alle wollten sie darin herumblättern und es fanden sich auch gleich Personen, die Beiträge liefern wollten, und zwei weitere, die bereit waren redaktionell mitzuarbeiten – eine dritte Person kam etwas später hinzu. Im August gab es dann schon die erste Ausgabe. Selbst der Titel blieb der gleiche wie noch der Arbeitstitel der Null-Ausgabe. Inhaltlich gab es über die Jahre ein paar Erweiterungen, aber man merkt noch immer, das alles auf der Null-Ausgabe beruht. Es war die erste in Deutschland erschienene frei erhältliche Publikation zum Holmes-Kosmos, auf DIN A4 vierfarbig gedruckt und an dem alle mitarbeiten können. Gerade letzteres ist ein Aspekt, der mir wichtig ist. Das SHM ist nicht elitär, es ist ein Heft für Holmes-Interessierte, von Holmes-Interessierten. Wer Lust dazu hat eine Filmbesprechung zu verfassen, sich mit einem Aspekt aus Holmes' Wirken zu beschäftigen (sogenannte Forschungsartikel), sich über ein gerade gelesenes Pastiche mit einer Rezension auszulassen, eine Kurzgeschichte zu verfassen oder was auch immer, kann sich liebend gerne bei mir melden.


Woher kommt Deine Faszination für Sherlock Holmes?
Meine Begeisterung für Sherlock Holmes rührt vermutlich, ganz exakt erinnere ich es nicht mehr, von den spannend gemachten Europa-Hörspielen mit Peter Pasetti in der Titelrolle. Die hörte ich damals in meinen Jugendjahren rauf und runter. Etwa zu der Zeit liefen auch ein paar Folgen der Rathbone-Reihe im Fernsehen, sowie die charmante Serie mit Geoffrey Whitehead. Weil ich schon immer eine Leseratte war, blieb es natürlich nicht aus, dass ich auch die Grundlage kennenlernen wollte, und so kaufte ich mir von meinem Taschengeld, das war damals nicht so üppig, den Kanon Stück für Stück zusammen. Weil ich alle zwei, drei Tage erneut nach dem nächsten Band fragte, fiel das dem Buchhändler so auf die Nerven, dass er mich rüde anblaffte, ich solle doch gleich alle Bände kaufen und nicht ständig wiederkommen. Daraufhin raffte ich mein Erspartes zusammen, erwarb die restlichen Bände und betrat danach die Buchhandlung niemals wieder. Man sollte halt auch Kinder und Jugendliche ordentlich behandeln. Es war übrigens noch die Ullstein-Ausgabe, die für mich bis heute einen besonderen Stellenwert hat. Auch wenn die nur ein paar Jahre später erschienene Haffmans-Ausgabe natürlich so überragend ist, dass ich die Abenteuer gleich erneut las und spätestens damit die ewige Flamme meiner Holmes-Begeisterung entzündet war.

Für jeden Sherlock Holmes Fan gibt es "den" Schauspieler, der Holmes am besten darstellt. Wer ist es bei Dir?
Da muss ich nicht lange überlegen, komme jedoch nicht umhin, auf den ersten Platz des Sieger-Treppchens gleich drei Darsteller zu stellen: Ian Richardson, Basil Rathbone und der frühe Jeremy Brett. Alle drei sind in ihrer Darstellung des Meisterdetektivs völlig unterschiedlich, verkörpern ihn für mich aber gleichermaßen perfekt. Ian Richardson strahlt eine überlegende Ruhe aus, Basil Rathbone ist schneidig agil und der frühe Jeremy Brett wirkt hektisch überzeugend. Eigentlich gehört auch Peter Cushing dazu … aber sei es drum, er ist halt auf Platz zwei. Geoffrey Whitehead ist auch ein Darsteller der unbedingt auf das Treppchen gehört: Platz drei.
Unter den vielen nicht genannten Darstellern, sind durchaus ein paar, die ich im Grunde genau so gerne in der Rolle sehe – gewissermaßen ein paar Lucky Loser in meinem persönlichen Ranking; zum Beispiel Christopher Plummer in „Mord an der Themse“ und „Silver Blaze“.

Du hast selbst auch schon einige Texte verfasst. Wie kam es dazu, dass Du auch selbst mit dem Schreiben begonnen hast?
Es hat mir von jeher Spaß gemacht, meine Fantasie zu kanalisieren und schriftlich umzusetzen. Zu den ersten Textversuchen gehörte auch ein Holmes-Fragment, über eineinhalb eng beschriebene Schreibmaschinenseiten bin ich aber nicht hinausgekommen. Das war damals, kurz nachdem ich die Ullstein-Ausgabe gelesen habe. Mit dem Verfassen von Texten ging es im Grunde richtig los, als ich mich mit dem Pen & Paper-Rollenspiel Das Schwarze Auge (kurz: DSA) beschäftigt habe und zusammen mit einem Freund in den neunziger Jahren dazu ein sehr umfangreiches Fan-Abenteuer geschrieben habe. Im Grunde war das der Anfang meiner Schreibbegeisterung. Mehrere Fanprodukte folgten, unter anderen zwei Regiozine – das sind Fanzine, die auf eine spezielle Spielregion bezogen sind -, von denen eines davon sogar dreizehn Jahre lang von mir herausgegeben wurde, das andere war nicht ganz so langlebig. Natürlich gehörte auch das Verfassen von Texten dazu. Durch meine Aktivitäten bin ich der DSA-Redaktion aufgefallen und es kam dazu, dass ich an zwei Quellenbänden (das sind umfangreiche Regionalbeschreibungen über Land und Leute, Politik und Kultur usw.) sogar maßgeblich mitwirken durfte. Hier und da steuerte ich auch für andere Produkte der Redaktion unterschiedlich lange Abschnitte bei ... dann gründete ich das SHM – Das Sherlock Holmes Magazin.
Von nun an war mein Fokus vollkommen verlagert. Neben der Arbeit am SHM und gelegentlichen verfassen von Texten für das Heft, versuchte ich mich aber auch immer wieder an Holmes- Geschichten. Eine meiner ersten war eine Erzählung in der Mrs. Hudson die Ereignisse aus „Der Detektiv aus dem Sterbebett“ aus ihrer Sicht erlebt. So etwas gefällt mir – bekannte Ereignisse aus einer anderen Sicht zu erleben, oder sie an irgendeiner Stelle zu ergänzen. Allerdings habe ich bisher nur drei Geschichten dieser Art verfasst. Ab und zu wurde ich gefragt, ob ich nicht Texte zu bestimmten Anlässen schreiben könne. Natürlich konnte ich. Das sind keine Geschichten im eigentlichen Sinn. Es kam jedoch vor, dass ich diese später noch umarbeiten konnte. Hin und wieder fällt mir ein Thema ein oder ein Aspekt auf, den ich gerne ausarbeiten würde – woraus die eine oder andere Geschichte entsteht. Manchmal schreibe ich aber auch nur so vor mich hin und schaue, wohin mich das führt. Nicht selten kommt eine solche Schreiberei nicht über den Anfang hinaus, aber hin und wieder entsteht dann doch eine brauchbare Geschichte. Manchmal geschieht dabei aber auch Unerwartetes. Als ich an etwas schrieb, dass als Einleitung zu einem Projekt gedacht war, hat sich während des Schreibprozesses die Grundidee irgendwie verselbstständigt und das Ergebnis ist als Einleitung überhaupt nicht mehr zu gebrauchen. Dafür ist es eine ganz ordentliche Erzählung geworden, die gleich zwei „sherlockianische Probleme“ thematisiert.
Es macht mir einfach Freude, mich mit Holmes und Watson zu beschäftigen – manchmal auch ohne den einen, manchmal auch ohne den anderen -, Dialoge zwischen ihnen zu entwickeln, Szenen zu entwerfen, in denen sie agieren …


Welcher ist Dein liebster Nebencharakter?
Eindeutig Wiggins. Zwar taucht der Knabe nur in den ersten beiden Romanen auf, aber die Baker Street Irregulars mit Wiggins als An- und Wortführer, haben bei mir einfach Eindruck hinterlassen. Leider hat Sir Arthur Conan Doyle danach von dem Jungen nie wieder Gebrauch gemacht und auch die Irregulars an sich kommen bedauerlicherweise nur noch zweimal kurz vor, einmal davon sogar nur als vage Erwähnung. Natürlich ist es zudem schade, dass bei „Das Zeichen der Vier“ das Erscheinen der Baker Street Irregulars in der Baker Street nur eine Kopie aus „Eine Studie in Scharlachrot“ darstellt. Womit auch ein zeitliches Problem entstand, denn Wiggins wird bei dieser kopierten Szene genauso beschrieben wie zuvor, obwohl der Fall mehrere Jahre nach dem ersten spielt und er daher kein Kind mehr sein kann.

Aus mehreren Gesprächen mit Dir weiß ich um die Liebe zu den Hiatus-Geschichten. Warum reizen Dich gerade diese Geschichten?
Der Hiatus übt auf mich eine Faszination aus, die ich gar nicht so richtig erklären kann. Drei Jahre war Sherlock Holmes verschwunden, galt als tot, ist stattdessen aber in der Welt unterwegs gewesen. Wo war er überall, weswegen ist er dorthin gegangen und was hat er dort erlebt? Aus der Geschichte „Das leere Haus“ erfahren wir zumindest ein paar Schlagworte, leider keine weiteren Details. Er war zwei Jahre lang in Tibet und hat Bekanntschaft mit dem Lama gemacht. War er wirklich ganze zwei Jahre dort? Ist das nicht ein bisschen zu lang? Anschließend bereiste er Persien.
Dort war es zu der Zeit aber ausgerechnet für Engländer höchst gefährlich – vielleicht ein Grund, weshalb er sich als Norweger Sigerson ausgab? Angeblich war er sogar in Mekka, was keinem Europäer gestattet war. Dass er auch noch in Montpellier an Kohlen-Teer-Derivaten forschte, nimmt sich dahingehend schon fast langweilig aus. Auch in Khartum will er gewesen sein – also dort, wo General Gordon einige Jahre zuvor durch die Mahdisten zu Tode kam. Als Holmes dort war, war Khartum nur noch eine Ruine und Geisterstadt. Am gegenüberliegenden Ufer des Nils hingegen existierte die Stadt Omdurman, wo er mit dem Kalifen hätte speisen können. Aber damit befinden wir uns schon im Bereich der Interpretationen und Spekulationen. Und wo wir schon dabei sind:
Kann Sherlock Holmes während der Zeit nicht auch noch woanders gewesen sein? Der Hiatus bietet Raum für Abenteuer jeglicher Art, losgelöst von den Zwängen einer klassischen Holmes-Geschichte. Wenn auch nicht alles, dann scheint aber doch sehr vieles möglich zu sein.
Ein paar Autoren haben diese Lücke für sich entdeckt und schreiben – wie Franziska Franke – eine ganze Reihe über eben jene Zeit, andere verfassen ein oder zwei Geschichten dazu. Letztlich hat auch Star Trek-Regisseur Nicholas Meyer mit „Kein Koks für Sherlock Holmes“ einen alternativen Hiatus-Beginn verfasst und ließ auch seinen Holmes-Roman um das Phantom der Oper in der Ära spielen. Eine meiner Lieblings-Hiatus-Geschichten ist „Die Geschichte eines Vaters“ von Sterling E. Lanier, die in der Südsee spielt aber einen fantastischen Inhalt hat. Vielleicht war Sherlock Holmes sogar in Deutschland und hat sich in Sachsenhausen niedergelassen, um Gefolgsleute von Moriarty zu jagen? ;-)
Und löst man den Blick von Sherlock Holmes – wie ist es eigentlich Watson ergangen? Auch darüber weiß man nicht besonders viel. Ab und zu ist er vor Gericht als Sachverständiger aufgetreten, hat seine Paddingtoner Praxis gegen eine in Kensington getauscht, und er hat seine Gattin, die liebreizende Mary, verloren. Was aber genau und wann geschehen ist, bleibt offen.
Vermutlich ist es das Unbekannte, das Mysteriöse, sicherlich aber auch das Exotische, was mich an dieser Ära in Holmes' Wirken reizt.

Welches ist Dein liebstes Pastiche?
Das ist eine Frage, die ich nicht genau beantworten kann. Es gibt so einige ganz hervorragende Pastiches, die mir, durchaus aus unterschiedlichen Gründen, ganz besonders gefallen. Es gibt ein paar Autoren, die es schaffen, den Stil von Sir Arthur Conan Doyle sehr gut zu kopieren und glaubwürdige Fälle zu entwerfen. Aber auch solche, die ihren eigenen Stil entwickeln und ebenso überzeugende Abenteuer verfassen, die vielleicht eine mehr humoristische Note haben, ohne es an Spannung verlieren zu lassen. Neugierig bin ich immer auch auf Storys, in denen die ausgetretenen Pfade verlassen werden, eventuell sogar mit dem Holmes-Kanon brechen. Darunter sind ein paar wirklich tolle Geschichten. Oder es wird ein anderer Blickwinkel eingenommen, also aus der Sicht einer ganz anderen Figur; eventuell tauchen Holmes und Watson auch gar nicht auf, oder sind bestenfalls Nebenfiguren. Letztlich hat es auch immer mit der persönlichen Erwartungshaltung und Einstellung zu tun und was man vielleicht auch damit verbindet, weswegen man von einer bestimmten Geschichte so begeistert ist. Das gilt natürlich auch für den Kanon. Manchmal ändert sich ja auch die eigene Einstellung und der persönliche Blickwinkel und andere Geschichten rücken näher. Es gibt durchaus so einige Erzählungen, die für mich die Spitze des Pastiche-Tsunamis bilden. Aber es fällt mir extrem schwer eines auszuwählen, welches mein Liebstes darunter wäre.
Auch ein Sieger-Treppchen ist nicht möglich. Es würden sehr viele auf Platz eins stehen, noch mehr auf den Plätzen zwei und drei stehen. Wobei ich mir sicher bin, dass mancher Sherlockianer, der diese Auflistung läse, verständnislos den Kopf schütteln und sich verwundert die Augen reiben würde, denn es sind einige Storys dabei, die von anderen Personen gar nicht geschätzt werden.

Wer neugierig ist, kann sich hier weiter informieren: SHM.wordpress

Nächsten Monat gibt es ein neues Interview.

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