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Donnerstag, 9. Mai 2024

Autoreninterview Tom Turtschi

Hallo zusammen.

Heute geht es mit dem Autor Tom Turtschi weiter:

(Foto: Tom Turtschi (privat), Grafik: Maximilian Wust)

Wie bist du zum Schreiben gekommen?
Geschrieben habe ich schon immer. Als Jugendlicher unbekömmliche Gedichte, in den Nullerjahren einen Roman mit dem Namen "Wüstentau", der glücklicherweise den Sprung von der Festplatte in die Verlagshäuser nicht geschafft hat.

Nach 2010 fasste ich den Entschluss, mich intensiver mit dem Schreiben zu beschäftigen. Ich ging auf die Fünfzig zu, ein Herzproblem hatte mich kurzzeitig außer Gefecht gesetzt, und ich gelangte zu der Einsicht, dass mir die Zeit wohl nicht mehr reichen wird, um die Weltherrschaft zu erlangen. Ausser in meinen Texten: Da reise ich quer durch die Zeit, erschaffe Welten, bevölkere sie mit meinen Figuren. Ich bestimme, wo es lang geht. Das war ein sehr weiser Entscheid: Ich denke, die Menschheit würde enorm profitieren, wenn einige andere Potentaten in dieser Welt zu einer ähnlichen Schlussfolgerungen gelangen und ihre pervertierten Machtfantasien in Texten ausleben würden, die niemand zu lesen braucht.

Ich habe kürzlich deine Kurzgeschichten in "Protokoll Delta Bravo" gelesen und war begeistert. Wie lange hast du an den einzelnen Geschichten geschrieben?
Sehr lange, manchmal Jahre. Das hängt mit der Art zusammen, wie ich Texte entwickle. Oft steht ein Satz am Anfang, der mich fesselt, eine kurze Szene. Oder ein thematischer Ansatz, der mich interessiert. Eine Konstellation von Figuren. Dann entwickelt sich der Text von Satz zu Satz, oft über Monate. Manchmal hänge ich fest, breche ab - und greife den Text später wieder auf. Irgendwann steht eine erste Fassung, die überarbeitet wird - meistens viele Male. So kann es Jahre dauern, bis ich mich durchringen kann, eine Erzählung zu publizieren.

Diese Schreibweise erklärt meinen bescheidenen Output. Aber ich habe nun mal kein Konzept oder Storyboard im Kopf, das ich abarbeite: Schreiben ist für mich Forschen und Erkunden. An meinem Arbeitsplatz hängt ein Zettel mit einem Zitat von David Albahari, gleichsam als Leitmotiv:

"Wenn ich zu schreiben anfange, habe ich kaum je die fertige Story im Kopf. Die ersten Sätze setzen ein Feuer in Gang. Es entsteht ein Prozess des Entdeckens, der die ganze Niederschrift durchhält. Eigentlich erzähle ich die Geschichte ja mir selbst, und wenn es Leute gibt, die sich dafür begeistern, umso besser."

Die Geschichten sind thematisch sehr verschieden. Ist dir ein breites Spektrum an Inhalten wichtig? Vielmehr: Planst du das oder ergibt sich das aus der jeweiligen Idee?
Im Grunde gibt es ja nur zwei Geschichten, die man erzählen kann. Die erste lautet: Zwei Menschen begehren sich und kriegen sich nicht. Das Kondensat der zweiten geht so: Der Gute und der Böse treffen aufeinander. High Noon - wer zieht schneller?

Die beiden Plots lassen sich unendlich ausschmücken und variieren. Bei der Romanze kann man die Irrungen und Wirrungen beschreiben, die der Vereinigung und dem Glück im Weg stehen, man kann das Leiden der Protagonisten schildern, und an den Schluss die Erlösung oder das tragische Ende setzen. Auch das Grundgerüst der zweiten Geschichte birgt unzählige Variationen in sich, die seit den Anfängen des Erzählens durchgespielt werden.

Ich gehe also davon aus, dass alles bereits erzählt wurde, was erzählt werden kann. So besteht der Kern für mich viel mehr darin, wie man etwas erzählt, als was man erzählt. Bei den Stoffen, die ich bearbeite, folge ich meinen persönlichen Neigungen und Passionen, aber viel mehr beschäftigen mich formale Fragen. In welche Reihenfolge bringe ich die Wörter und Sätze, damit der Text dicht wird, zu vibrieren beginnt? Ein Text ist ein Energiesystem, das dem Leser entweder Energie gibt oder entzieht. Und finde ich irgendeinen Dreh heraus, der dem Stoff einen neuen Aspekt abringt, der überrascht? Wenn mir das nicht gelingt, bleibt der Text eine offene Baustelle, oder schlimmer noch, eine Bauruine, die nie fertiggestellt wird.

Michael K. Iwoleit spielt im Nachwort auf deine Gartenaffinität an. Was hat es damit auf sich?
Tja, der Garten ... Da muss ich etwas ausholen. Meine Frau und ich sind 1995 aufs Land gezogen, in ein 300 Jahre altes Bauernhaus mit Umschwung.

Wir starteten das gemeinsame Projekt Hof3, das sich in den beinahe 30 Jahren immer wieder verändert hat, aber irgendwie der ursprünglichen Idee treu geblieben ist. Über ein Jahrzehnt betrieben wir ein Kurs- und Kulturzentrum, 23 Jahre lang veranstalteten wir jeden Sommer ein Open-Air-Kino, daneben realisierten wir in der Szenografieagentur unzählige Ausstellungen. Wir verstanden Hof3 immer als Gestaltungslabor und Experimentierfeld in einem umfassenden Sinn, in dem gelebt und gearbeitet wird. Als eine kleine Sozialutopie, in der Menschen, Tiere und Pflanzen eine Gemeinschaft bilden. Heute leben zehn Personen unter einem Dach: Zwei Gamedesigner, fünf Ukrainerinnen und Ukrainer, eine Rentnerin, meine Frau und ich. Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, sozialen Schichten, zwischen 13 und 80 Jahren alt. Jeder macht sein Ding - dabei versuchen wir, einander mit Respekt und wachem Interesse zu begegnen, kochen und essen regelmäßig zusammen. Ein weiteres Experimentierfeld ist der Garten: Meine Frau pflegt den 1,5 Hektar großen Umschwung nach den Prinzipien der Permakultur, also einer regenerativen Landwirtschaft, die mit geschlossenen Kreisläufen arbeitet. Vereinfacht gesagt ernähren die Pflanzen die Tiere, diese produzieren den Mist für die Pflanzen. Ich bin nicht der leidenschaftliche Gärtner mit der Harke in der Hand, aber als Studienobjekt fasziniert mich der Garten. Welche Nachbarschaften bekommen den Pflanzen, was funktioniert nicht? Ein Garten ist ein komplexes Geflecht von Beziehungen, das empirisch von Jahr zu Jahr optimiert wird. Zudem schätze ich auch die sinnliche Komponente des Gartens, man ist da als Mensch sehr direkt mit der Welt verbunden. Man riecht, sieht, hört und schmeckt - draußen und dann auf dem Teller. In Sachen Gemüse, Früchte und Fleisch sind wir Selbstversorger. Ich koche leidenschaftlich gerne, und da macht es natürlich Spaß, die eigenen Produkte zu verarbeiten.

Welche drei Gegenstände würdest du mitnehmen, wenn du mit einem Raumschiff fliegen müsstest? Und welches Ziel würdest du ansteuern?
Einen Bleistift, eine Zeitmaschine und ein Rückreiseticket. Sobald ich weg bin, wird das Zuhause der Ort meiner Sehnsucht.

Neben Kurzgeschichten hast du auch einen Roman geschrieben. Welche Textlänge sagt dir mehr zu?
In der SF reichen 50, 60 Seiten, um einen glaubhaften Weltenbau zu betreiben und eine Idee durchzuspielen. Der Roman gilt als "Königsdisziplin", aber ich denke, das wird überbewertet. Ich halte mich gerne an eine Aussage von Tomas Schmit, einem deutschen Konzeptkünstler, den ich sehr schätze: "Male kein Bild, wenn eine Zeichnung reicht. Mache keine Skulptur, wenn du die Aussage in ein Bild packen kannst."

Wenn ein Text beginnt, in einen Roman auszuufern, bin ich zunächst einmal skeptisch. Bekommt die Länge der Idee wirklich? Bin ich dem gewachsen? Dann schwirrt mir ein Satz durch den Kopf, den ich vor 45 Jahren aufgeschnappt habe ... Als pubertierender Junge kam ich mal in den Besitz eines Playboy-Magazins. Keine Ahnung, wie es dazu kam - an einem Kiosk habe ich es kaum erstanden, dazu war ich viel zu verklemmt und zu schüchtern. Der verstohlene Besitz entwickelte seine Nachhaltigkeit vor allem durch diesen besagten Satz, den ich nie mehr vergessen sollte: Zwischen den weiblichen Rundungen fand sich ein langes Interview mit Friedrich Dürrenmatt. Auf den Bildern konnte man verfolgen, wie er im Verlaufe des Gesprächs immer besoffener und seine Antworten zunehmend enthemmter wurden. Am Schluss setzte er zu einem umfassenden Kollegen-Bashing an, bei dem er einige deutliche und treffende Worte fand. Zu Günter Grass bemerkte er, der sei doch viel zu wenig intelligent, um so dicke Bücher zu schreiben.

Nun, das Nobelpreiskomitee hat Dürrenmatts unverfrorene Bemerkung zurechtgerückt … Ich allerdings überlege mir immer: Reicht mein Potenzial für 300 Seiten? Wenn nicht, wäre es anrüchig, den Lesern einige Stunden Lebenszeit zu stehlen.

Gibt es bei dir auch die berühmte Schublade für zukünftige Geschichten?
Sicher doch. Es ist ein ganzer Schubladenstock, eine Wand mit unzähligen kleinen Schubladen, voller Karteikarten, außen mit Zettelchen beschriftet, wie in einer alten Apotheke oder Eisenwarenhandlung. Das sind alles Geheimfächer, ich spreche nicht über zukünftige Projekte - aber so ganz unter uns kann ich mal drei zufällige Schubladen wählen und einen Spalt breit öffnen.

Was haben wir da? An den Frontseiten steht:


Zeitmaschinen
Zero-Gravity-Hubaggregate
Künstliche Intelligenz


Aha, ich sehe, ich habe drei Kästchen erwischt, die sich mit neuen Technologien beschäftigen. Wir SF-Autoren sind ja ganz begeistert von all den coolen Dingen, die noch erfunden werden. Ich möchte mir die Frage stellen, wie Technologien entstehen, wie sie sich von der Grundlagenforschung über kostspielige Anlagen in den Alltag der Menschen schleichen, zuerst als Luxusgüter, dann als billige Massenware. In der Ökonomie nennt man das den "Trickle-down-Effekt", der davon ausgeht, dass der Luxus der Reichsten nach und nach in die unteren Schichten durchsickert und irgendwann allen zugutekommt. Ich befürchte, das ist mehr eine billige Legitimation für den unverschämten Reichtum der sogenannten Innovatoren, deren Heilsversprechen vor allem den eigenen Kontostand beglückt, als ein tragfähiges Zukunftsmodell. Mich interessiert nicht so sehr die spezifische Technologie, die ist austauschbar, sondern unsere Erwartung an sie, und der Prozess, wie wir sie entwickeln, finanzieren und was sie schließlich mit uns macht.

Werfen wir einen Blick in die Kästchen:

  • Zeitmaschine













  • Zero-Gravity-Hubaggregate













  • Künstliche Intelligenz




Nachdem ihr wisst, was Tom schreibt, könnt ihr hier mehr über ihn erfahren:
tom-turtschi.ch
wikipedia.org/wiki/Tom_Turtschi
hof3.com

Alle Bilder hat der Autor zur Verfügung gestellt.

In diesem Sinne: Fröhliches Lesen und freut euch auf das nächste Interview.  

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